Katalog anläßlich der Ausstellung
Gabriele Langendorf
Stadtmuseum Rastatt, 19. 9. – 25. 10. 1998
Gabriele Langendorf
Bilder 1992 - 1997
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Ortungen des Sichtbaren (Thomas Hirsch)
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Nomadisch wandern von Hotel zu Hotel (Andreas Bee)
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Zu den Schiffsbildern (1995-1997) (Claudia Scholtz)
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G.L.
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Impressum
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Ortungen des Sichtbaren (Thomas Hirsch)
Gabriele Langendorf, die an der Hochschule für Gestaltung in Basel und am Städel in Frankfurt/M.
studiert hat und schon während ihrer Akademiezeit zu eigenen künstlerischen Intentionen und
Formulierungen gelangt ist, erstellt ihre Arbeiten – im wesentlichen: Gemälde – zumeist in
Werkgruppen. Teils werden diese von kleineren Bildfolgen begleitet, nur selten sind Einzelstücke
entstanden. Schon diese Arbeitsweise, die übrigens kaum als seriell zu bezeichnen wäre, teilt
Essentielles mit: ein beharrliches Erkunden, die Annäherung an eine Motivik von verschiedenen
Standpunkten aus, das immer neue Ausloten von Inhalten und Anliegen.
Gabriele Langendorf’s Malerei ist gegenständlich – wenn wir damit den Ausgangspunkt im Sichtbaren
und die Möglichkeit der augenblicklichen Wiedererkennbarkeit meinen. Indes liegt das Sichtbare da
bereits in Reflexion vor, als Postkarte, Prospekt oder eigenes Photo im Anschluß an das visuelle
Erleben, also in zeitlicher, sensitiver und farblicher Distanz, jenseits der faktischen Räumlichkeit und
als Ausschnitt. Von der reproduzierten „Wahrhaftigkeit“ wiederum bleiben Langendorf’s Bilder dann im
Insistieren auf der Malerei fern. Sie bewahren die mediale Vergewisserung: Die „Glätte“, die akribische
Genauigkeit, die etliche dieser Arbeiten besitzen mögen, hebt sich sehr schnell wieder auf. Eine
Maßnahme, dies zu verdeutlichen und zu differenzieren, ist die Sequenz analoger Gemälde.
Die zentralen Werkgruppen von Gabriele Langendorf bezeichnen „Hochhausfassaden“ (wie ich diese
Bilder von 1990 bis 1994 nennen möchte), mündend in die ornamental anmutende Uniformität der
„Kollektionsständer“ (1994) und, eng mit all’ dem verknüpft, die „Tourist-Hotels“ (1992-1994), dann –
als vielleicht am disparatesten zueinander stehende Schilderungen – die „Schiffsbilder“ (1995-1997),
darunter die vier Ansichten der unberührten Meeresfläche durch ein Bullauge (1996), sowie,
alternierend in diesen Jahren, die „Hotelschlafzimmer“ (1993-1997). Ohnehin können die Sujets zu
späterem Zeitpunkt in abgewandelter Form wieder aufgegriffen werden. Zu konstatieren wäre also ein
bildnerisches Interesse an architektonischen Gegebenheiten (die sich durch Außenfassaden oder
Innenräume definieren), sodann am Thema des Reisens, des Wechsels der Orte. In der Regel wird
urbaner (Lebens-)Raum benannt, der explizit auf Menschen deutet. Diese aber sind niemals zu sehen.
Gabriele Langendorf’s Malerei, so wie diese seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre entsteht,
entstammt dem Kontext einer Malerei, die Gestimmtheiten und ein seismographisches Notieren von
Umgebung impliziert. Jedoch würde der Bezug auf die Bilder ihres Lehrers an der Städelschule,
Raimer Jochims, der eine „reine“, wohl als fundamental zu bezeichnende Malerei realisiert, ebenso
auf falsche Fährten führen wie der Hinweis auf Jochims’ Kollegen Thomas Bayerle, der rhythmisierte
graphische Strukturen, ein Pulsieren und Strömen in Metropolen, als faktische Realität (aus der Sicht
von oben) wiedergibt.
Schon im Zueinander von topographisch benennbarem Gegenstand und
Sequenz erreicht Gabriele Langendorf Hintersinniges. Das Motiv wird sehr schnell zum Anlaß
schlechthin, es erweist sich als „belanglos“: erst über die Rhetorik der Syntax wird dessen Signifikanz,
„Typik“ wieder hereingeholt.
In einem Gemälde von 1991, „Landriano“, hat Gabriele Langendorf den Bruch zwischen der
photographischen Suggestion und der Realität des „Gemachten“ vehement benannt. Grüne
Farbbahnen schieben sich, in schwerer Dichte auseinander strebend, vor eine orange-ockerfarbene
nüchtern mehrgeschossige Außenwand: Rationalität und kontrollierter Impuls werden miteinander
konfrontiert. Das Unbehagen am stereometrisch Genormten, an der städtebaulichen Facettenlosigkeit,
welche dann in anderen Gemälden ausformuliert wird, ist augenscheinlich. Und, Langendorf’s Grün
bleibt Bewegung in der Abstraktion, keine Pflanze, wie (fast zynisch) in anderen Darstellungen,
sondern „giftige“ „Auslöschung“, die das letze Wort hat. Malerei hat als Methode und Materialität ihren
Auftritt.
Daß Langendorf’s künstlerische Verfahren intentional motiviert sind, wird gerade in den Gemälden zu
Beginn der 90er Jahre evident. Der gleiche Tatbestand ist als stetes Über- und Nebeneinander in
Ausschließlichkeit, in derselben Größe, den selben Proportionen und derselben Farbigkeit gegeben
und bleibt insgesamt noch ausschnitthaft (die vertikalen Grenzen oder der Horizont „passen“ schon
nicht mehr auf das Bild); in einem unveröffentlichten Text spricht Gabriele Langendorf vom „serielle(n),
d.h. ein beliebig erweiter- und austauschbare(n) Motiv“ (Frankfurt/M., April 1994). Sie trägt die Farben
mit Schablonen und einem Schwämmchen auf. Die Bildherstellung erweist sich als Exerzitium, die
Wiederholung des „ewig“ „Gleichen“ auf diesen riesigen Formaten wird als bewußte Handlung
manifest. Die Größe der Leinwand, welche den Betrachter überragt und damit weitere Hinweise auf
Reales liefert, steht diametral zu den einzelnen Rasterungen, ob sie nun Fensterreihen oder Balkone
oder Wohneinheiten repräsentieren. Langendorf schildert eine Stereotypie, die als Kommentar zum
Pragmatismus in der Architektur (z.B. Mietskasernen, Verwaltungsgebäude) zu verstehen ist. Sie wirft
innerhalb eines solchen Kontextes Fragen nach der gesellschaftlichen Verfaßtheit auf; ihre
Malarbeiten sind ertastete Zeitgenossenschaft. Der „Kollektionsständer“ „Wohnen von der Stange“
(1994), der Motive dieser Bilder im Sinne von Stoffmustern monoton aneinanderreiht, forciert dieses
Unwohlsein zwischen flimmernder Vielfalt und Uniformität weiter.
Ähnliches läßt sich, in diesen Jahren, für die Strandansichten mit der geschwungenen Skyline eines
Hotels, für den Beach-Club, davor der Swimmingpool, konstatieren, für die „Edenbilder“ (G.
Langendorf, Frankfurt/M. 1993). Hier wird der Konformität eine durchgestylte Unpersönlichkeit
vorgesetzt. Fensterlos übereinandergetürmte „Schuhschachteln“, ein ungetrübter blauer Himmel, eine
verordnete Beschaulichkeit im Urlaubsparadies geben dem Hotel seinen Standort. Das Gleißende,
gleichmäßige Ausleuchten des Bildes und die statische Zuständlichkeit der Blauwerte sind weitere
Momente dieser Gemälde. Als eine Folge der „Verschiebungen der Wahrnehmung“ (Eva Karcher, Art
10/93, S. 71) wird eine Atmosphäre von steriler Fremdartigkeit und plötzlicher Kühle erzeugt.
Gerd Dengler oder, in seinen frühen Bildern, Ben Willikens, haben solches zur Methode erhoben; das
Motiv des leeren Außenraums, das z.B. in der Pittura metafisica vorkommt, geht dem noch, in
anderem Kontext, voraus. Gabriele Langendorf streift hier beiläufig Verschiedenes; sie selbst würde
ihre Bilder weder surreal noch zivilisationskritisch sehen wollen; der Grad an konstatierender
Sachlichkeit darf nicht unterschätzt werden: „Wenn diese Realität in meinen Arbeiten absurd oder
aberwitzig erscheint, so ist das nicht erklärte Absicht.“ (G. L., Frankfurt/M. 1993, S. 8). Die
Kommentierung beruht auf präziser Beobachtung. Zu recht aber wurde in Rezensionen darauf
hingewiesen, daß sich der Strand auf diesen Bildern in den Formen des weiblichen Körpers (wie in
„Gullivers Reisen“ riesenhaft gegenüber den Gebäuden) erhebt, gleichsam steinerne Monumente,
ohne jede Lebendigkeit.
In den „Schiffsbildern“, mehr noch in den „Hotelschlafzimmern“ wird die Wirklichkeit mit anderen
Mitteln auf Distanz gehalten. Das Moment der Wiederholung wird nun auf die Folge der Bilder
angewendet. Was die Führung aus dem Bullauge extenso benennt, zeichnet sich in der Raumflucht
der Hotelzimmer ab. Der Betrachter blickt aus unmittelbarer Nähe und gleichsam wie durch ein
Schlüsselloch auf die Szene, sozusagen als Voyeur, dessen Erwartungen aber nicht eingelöst
werden. Die Kleinheit der Tafeln bringt uns das Geschehen keineswegs näher. Sie verrät etwas über
die Möglichkeit von Intimität einer fernen Situation. Der Duktus, auch die Tonalität ändern von
Darstellung zu Darstellung. Zumal im Gesamtablauf wird der Wechsel der malerischen Manier als
jeweils zugemessene bildnerische Haltung erfahrbar. Gabriele Langendorf zeigt die 54
„Hotelschlafzimmer“ idealiter auf einer Wand, wie Räume, die sich (eine aufregende Vorstellung!)
hinter ein und derselben Hausfassade befinden. Es sind verschiedene Ansichten und Einblicke zu ein
und demselben Sachverhalt, die in ihrer Gesamtheit kaleidoskopartig, global, als Panoptikum, aber
mehr diachron als synchron wirken. Die Hotelzimmer sind „leergefegt“, keine Eindrückungen eines
Körpers auf dem Bett. Dieses ist nach Vorschrift, aber nicht ohne Stil, bezogen, der Handkantenschlag
in’s Kopfkissen routiniert. Lieber kein Tageslicht, kein geöffnetes Fenster. Die Einrichtung teilt – wenn
überhaupt – nur weniges über die potentiellen Gäste mit, über die Dimensionen des Zimmers läßt sich
mutmaßen.
Andererseits erhält die Szenerie infolge ihrer Farbigkeit und die Art der Farbbehandlung die Anmutung
von Aura, die durch das Mobiliar (Vorhänge, Tapete, Teppich, Muster der Decke, Art des Bettes, auch
wie diese zueinander und zum Fenster stehen, überhaupt: Einzel- oder Doppelbett) noch intensiviert
wird. Gabriele Langendorf „spielt“ unterschiedliche Situationen durch. Sie erzeugt narrative
Assoziationsketten, die letzlich offen bleiben.
Zugleich rezitiert sie die Geschichte der (neuzeitlichen) Malerei, deren Verfahren zwischen
Impressionismus, Pointillismus und den Modifikationen des Realismus, ohne daß dies als
demonstrative Anleihe oder als analysierendes Voranschreiten zu verstehen wäre. Die Malerei ist
selbst-reflektiv, nie aber Selbstzweck. Die vermeintliche stilistische Relativität (die sich in Ansätzen
einzig noch in der Gruppe der „Schiffsbilder“ findet) weist nur noch auf das konsequente Einkreisen
von Standpunkten und ein beherztes Eindringen in die Motivik. Von einem sichtbaren Ikonoklasmus
wäre jedenfalls nicht zu sprechen.
„Langendorf is heel dubbel over ,reizen�: als klein meisje langs de rivier wilde ze graag weg en ook
vanuit Frankfurt lokt de reis.“ (Guus Vreeburg, Vortrag Rotterdam, Okt. 1997) Zwischen
Autobiographie, erzählerischem Lakonismus und Zustandsbeschreibung oszillieren die „Schiffsbilder“,
die Gabriele Langendorf gewissermaßen als fragmentarisches Tagebuch auf längeren Schiffsreisen
angefertigt hat. Der Hinweis, das Arbeiten auf dem Schiff habe keine größeren Bilder zugelassen,
benennt nur eine Überlegung. Das kleine Format, das dokumentarisch Erinnerungen wie im
Fotoalbum bannt, pointiert hier noch die Spannung von engstem Raum und größter Weite, quasi im
Blick über die Schulter der Malerin. Ist dies ein objektivierendes Beschreiben oder ein subjektives
Einschreiben? Das Fenstermotiv – und das perspektivische Führen des Betrachterblickes – als Topos
der Kunstgeschichte ist auch in dieser Werkgruppe gegenwärtig, auch wenn der Innenraum und die
Rahmung selbst nicht abgebildet sind.
Vor allem in den ersten dieser Bilder, 1995, ist eine pittureske Detailliertheit zu sehen, die leuchtenden
Farbbänder an Schiffen, die Giebel von Herrenhäusern, welche Langendorf in den Niederlanden
registriert hat. Wesentlich ist der Blick auf das Wasser: Wie ein Gegenstand, gar eine Landschaft, auf
der Wasserfläche wiederkehrt, welche lebhaft bewegt, in Hebungen und Senkungen begriffen sein
kann; wie Farbigkeiten im Grau oder Blau „verschwimmen“ und Proportionen bis zur Abstraktion
verzerrt oder, im Gegenteil, „glasklar“ bewahrt werden. „Original“ und Spiegelung können, indem ein
Schiffsrumpf in das Wasser hinein schneidet, „verschmelzen“. Weiterhin wären das Spiel des Lichts
und das Blau des Himmels im Verhältnis zu dem der See zu erwähnen.
Dann aber entstehen Gemälde, bei denen sich eine Schweigsamkeit außerhalb jeder benennbaren
Zeit artikuliert. Die grau-weißen steinernen Monumente Magritte’scher Welten, die sich schon bei den
Sanderhebungen der „Strandhotels“ abgezeichnet haben, später in der Folge helltonig monochromer
Bilder „Zimmer mit Bergsicht“ (1994) angedeutet werden, sind zwar nur in einzelnen dieser
„Schiffsbilder“ präsent, wirken dann aber um so prägnanter. Psychologisches, das Visualisieren von
Gefühlen, könnte in diesen Bildern aufgerufen sein. Hinsichtlich der „Hotelschlafzimmer“ in ihrer
Gesamtheit könnte man sich selbst die Frage stellen, in welchem der Räume man am liebsten
übernachten würde ... Bei alledem, die souveräne malerische Umsetzung, welche sinnliche Momente
birgt und schon dadurch über eine Konzept- oder Metamalerei hinausgeht, muß nicht weiter betont
werden.
Gabriele Langendorf bevorzugt Formate, die das Außergewöhnliche erkunden, zunächst riesengroß
(das menschliche Maß übersteigend), dann äußerst klein. Es ist eine bemerkenswerte
Doppelbeziehung, die sich dem Betrachter stellt: Einerseits sind ihm die Sujets vertraut, andererseits
werden sie aus jedem vitalistischen Zusammenhang genommen und oft lediglich als Ausschnitt
gegeben. An den Linien und Feldern der Hochhaus- und Hotelfassaden streift der Blick
orientierungslos entlang. Die Vorstellungen vom Genießen, vom Erholen innerhalb standardisierter
Klassen, werden ad absurdum geführt. Im Kontrast zum existentiell Bedrängenden, das vermittels
solcher Bilder aufgeworfen werden kann, aber steht der flockige Auftrag der Farben oder das
leuchtende Kolorit. Die Intensität solcher Überlegungen artikuliert sich über die bildnerische Folge,
dies schließt die Autonomie – Einzigartigkeit – des Einzelbildes gerade nicht aus.
Amsterdam, Januar 1998
Thomas Hirsch ist Kurator der Herbert-Weisenburger-Stiftung, Rastatt
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Nomadisch wandern von Hotel zu Hotel (Andreas Bee)
54 Hotelzimmer, gemalt nach allen Regeln der Kunst. 54 Orte der Einsamkeit, der Anonymität, der
heimlichen Lust. 54 malerisch aufgeladene Bilder aus einem Niemandsland. 54 Doppelbetten, die so
tun, als wären sie unberührt, ohne Vergangenheit. 54 Zimmer, in denen täglich aufs Neue die Spuren
ihrer Nutzung getilgt werden müssen. Doch all diese scheinbar frischen, sauberen Orte waren vielfach
erfüllt von Leben, von banalen und bemerkenswerten Ereignissen, waren voller Langeweile oder
gespannter Erwartungen. In ihnen wurde geliebt und gelitten, gelacht und geweint. In ihnen hat sich
manch einer schlaflos nach dem fernen Morgen gesehnt, ein anderer vielleicht die Kürze der Nacht
verflucht. All diese Hotelzimmer gleichen unendlich oft benutzten Schiefertafeln: Jeder neue Tag
wischt die Episoden des vorhergehenden aus und überschreibt sie, ohne das Gewesene ganz zu
tilgen. Nicht einmal die Zimmermädchen, die für die inszenierte Unschuld des Raumes zuständig sind,
könnten darüber Verläßliches berichten. Und dennoch ist die Vergangenheit eines Zimmers stets Teil
seiner Gegenwart.
Was treibt eine Malerin dazu, sich mit Lust über vier Jahre lang immer wieder aufs Neue diesem Sujet
zuzuwenden? Warum malt sie keine Portraits von Menschen, denen sie begegnet ist?
Zunächst einmal erscheinen Langendorfs Ansichten von Hotelschlafzimmern wie eine Liebeserklärung
an das Unterwegssein, an das Unstete im Leben, an einen Zustand des Seins, bei dem materieller
Besitz auf Dauer keine Chance hat, weil alles zum Ballast zu werden droht. Um das Reisen genießen
zu können, muß man sich seinen Regeln unterwerfen und sich so unvoreingenommen wie nur möglich
auf die Welt einlassen. Nur wer sich staunend und wundernd dem Fremden ausliefert, nur wer sich
hingibt, hat gute Aussichten, die Dinge neu zu sehen. Sich Freiheit und Leichtigkeit zu erhalten sind
Grundbedingungen des Reisens. Auch davon erzählen die Bilder.
Ein Hotelzimmer verhält sich zum ständigen Wohnsitz wie ein Flirt zur Ehe. Schon beim Betreten des
fremden Raumes weiß man in der Regel: Es ist nicht für lange, es geht bald weiter, vielleicht schon
morgen. In einem Hotelzimmer befindet sich nichts, zu dem man eine persönliche Beziehung hat. Es
hat auch keinen Zweck, Bücher oder Erinnerungsstücke anzusammeln. Ja, es wäre vollkommen
sinnlos und stünde der Beweglichkeit im Wege, gäbe man hier dem ankerwerfenden Drängen des
Gemüts nach.
Wie alle leidenschaftlich Reisenden genießt Gabriele Langendorf das Gefühl des Fremdseins an
einem unbekannten Ort. Man kennt niemanden, ist unbekannt unter Unbekannten, versteht vielleicht
die Sprache kaum und kommt sich dennoch – dank eines Hotelzimmers – nicht verloren vor.
Fremdheit und Geborgenheit erzeugen eine Spannung, die auf Körper und Geist stimulierend wirkt.
Aber, so könnte man weiter fragen, warum läßt Langendorf das Gesehene und Erlebte nicht auf sich
beruhen, warum versucht sie, dem Flüchtigen Dauer zu verleihen? Die Bilder zeigen es: Weil sie mit
Leib und Seele Malerin ist, weil sie mit malerischen Mitteln das Gesehene und Erlebte aufladen muß,
weil sie es als Bild sehen und zeigen will. Deshalb verbindet sie die Lust des Sehens mit der Lust des
Schaffens. Die Hotelzimmer fordern den künstlerischen Zugriff geradezu heraus, sind Impuls und Ziel,
Vehikel und Zitat.
Zum Reisen gehören auch die verschiedenen Vorstellungen vom Reisen, die uns durch die Medien
vermittelt werden. Langendorf entnimmt die Motive für ihre Bilder zum Teil Prospekten und
Reisekatalogen oder fotografiert die bewohnten Räume selbst. All dies mischt sie in ihrer Malerei mit
den in der Erinnerung gespeicherten Erfahrungen. Doch warum macht sie nur von einigen Zimmern
Fotos, warum wählt sie nur bestimmte Prospekte aus, um sie später als Skizzen oder
Erinnerungsstützen zu nutzen? Warum ignoriert sie andere Räume? Weil längst nicht alle Zimmer in
hohem Maße anregend sind und nachhaltig wirken. Weil nur wenigen jene schwer zu erklärende
Ausstrahlung eigen ist, die danach verlangt, gebannt zu werden, die eine Reaktion, eine spezifische
Malweise provoziert, eine Malweise, in der sich das atmosphärisch Charakteristische des Ortes
verdichtet und steigert. So wie es Menschen gibt, die auf unerklärliche Art eine starke Wirkung auf
andere haben, so gibt es Räume, die die Aufmerksamkeit merkwürdig bündeln und wieder
zurückstrahlen. Nur in solchen Zimmern kann eine kreative Verbindung zwischen Betrachter und
Betrachtetem entstehen.
Das ist zu animistisch gedacht? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Unzweifelhaft jedoch ist die
Sonderstellung, die das Hotelzimmer im Bereich der Behausung einnimmt. Man könnte mit einem
gewissen Recht sogar behaupten: „Hotelzimmer sind die Nutten der Behaustheit.“1 Denn wie in der
käuflichen Liebe gibt sich hier niemand der Illusion von Dauer hin. Wie dort ist auch hier alles eine
Frage des Preises und der persönlichen Vorlieben. Vielleicht sollte man Venedig aus Gründen der
Harmonie in einem Drei-Sterne-Hotel erleben. Vielleicht passen Zimmer dieser Kategorie am besten
zu dem, was diese Stadt heute repräsentiert. Oberhalb dieser Klasse wird es komfortabel, schließt die
internationale Normierung des Standards Überraschungen weitgehend aus, geht der Kontakt zum
bestimmenden Treiben am Ort verloren, oberhalb dieses Niveaus erfährt der Reisende nichts
Unverhofftes mehr.
Jeder, der viel unterwegs ist, weiß, daß die Qualität des Aufenthaltes in einem Hotelzimmer
keineswegs von der absurd gemusterten Tapete und den kitschigen Kunstdrucken an den Wänden
abhängig ist. Ganz im Gegenteil: Die Erfahrung lehrt, daß genau das, was im privaten Bereich als
ästhetisch unzumutbar, gar als visueller Terror empfunden wurde, im gemieteten Zimmer anregend
wirken kann. Gerade dann, wenn wir uns mit einem Blick auf die irritierende Einrichtung nicht
vorstellen können, wie sich ein Hotelier seinen durchschnittlichen Gast denkt, was für ein Bild er sich
von diesem macht, kommt die Fantasie in Fahrt. Und indem wir uns in einem wüst dekorierten
Hotelschlafzimmer fragen, ob wir wirklich so verschieden von anderen Gästen sind, bringen wir uns
selbst in Schwung. So gesehen ist jede Besichtigung eines neuen Unterschlupfes spannungsgeladen
und nicht selten von einer erotischen Qualität. Betritt man ein Nacht- oder ein Liebeslager?
In Hotels ist vieles möglich, was zu Hause nicht erlaubt wäre. Mit dem Betreten eines Hotelzimmers
verläßt man nicht nur das vertraute Terrain der Heimat, ohne wirklich heimatlos zu werden, man wirft
gleichzeitig einen Teil des Ballastes ab, der zum Alltag und zu einem festen Wohnsitz gehört. In der
Reduktion auf das Nötigste liegt eine Leichtigkeit begründet, die befreit und uns Erholung und
Entspannung ermöglicht. „Kein Telefon, keine Besuche, kein schlechtes Gewissen, das einen
irgendwelcher unerledigter Arbeiten gemahnt. Eigentlich ist man sich selten derart sicher, nicht gestört
werden zu können. Und dieses Gefühl ist absolut unabhängig von jeder Form stilistischen
Hintergrundszenarios.“2 In einem merkwürdig stabilen Grenzbereich zwischen Anspruch und
Wirklichkeit wirkt das Unpersönliche des Hotelzimmers anziehend und abstoßend zugleich.
Die Bilder von Gabriele Langendorf zeigen das Bett als Herzstück des Zimmers. Die wenigen übrigen
Möbel gruppieren sich zwangsläufig darum herum. Von der Qualität des Bettes ist vieles abhängig.
Dimension und Position sind wichtig. Schmale und kurze Betten sind ein Graus. Ebenso Fußstücke,
die einen daran hindern, sich auszustrecken. Betten, die einseitig an die Wand gestellt wurden,
fördern bestenfalls Kindheitserinnerungen, im schlimmsten Fall verweisen sie auf ein Hospital.
Langendorf berichtet, es seien die Zimmer selbst, die ihr, der Malerin, den jeweiligen Farbauftrag und
die spezielle Pinselführung abverlangen. So verschiedenartig die 54 Zimmer sind, so variantenreich ist
auch die Malweise. Sie transportiert die Eigenart eines Raumes mindestens ebenso stark wie die
Nachdichtung des Realen. Jedes Zimmer, sofern es Beachtung verdient, hat etwas Besonderes.
Wir finden Zimmer von rein funktionalem Aufbau, mit kühler bis steriler Wirkung, ohne jeden
dekorativen Schnickschnack, ohne Wandschmuck, sanft beleuchtet, farbig in einem zurückhaltend
wirkenden, in hohem Maße konsensfähigen Blaugrau gehalten, ganz und gar auf den kleinsten
geschmacklichen Nenner hin komponiert, den Designvorstellungen aller potentiellen Gäste
angenähert.
Andere Zimmer sind in ihrem Glanz verblaßt und schnell gealtert, obwohl sie sich vor längerer Zeit
einmal mutig-modisch aus dem Gros der Einrichtungen hervorgetan haben müssen. Große poppige
Muster der Tagesdecke in orange-braunen Tönen etwa zeugen von dieser längst vergessenen
Aufbruchstimmung. Was einmal avantgardistisch genannt werden konnte, ist heute völlig ins Abseits
geraten und spricht bestenfalls nostalgische Gefühle an.
Dann gibt es Zimmer, in denen alles mehr oder weniger aufeinander abgestimmt wurde, deren
blumengemusterte Tapete ihren farbigen Widerpart im ebenso verzierten Teppichboden findet, ja, die
selbst noch in den Stores und in den Velours imitierenden Übergardinen das florale Grundthema
aufnehmen und variieren. In wieder anderen Räumen scheint nichts zueinander zu passen, könnten
Laura Ashley und Philipp Starck gleichzeitig Pate gestanden haben. Nicht selten wird hier das
klassisch elegante Imitat eines Stilmöbels mit verspielt rustikalen Elementen gemischt und durch
postmoderne Zutaten garniert.
Manche Zimmer wirken, als seien sie in Wahrheit gar keine Hotelschlafzimmer, sondern Bestandteil
einer zur Pension umfunktionierten Wohnung und nur im Moment, nur während einer Saison, dem
Fremden vorbehalten. Oder sie scheinen von amerikanischen Motels der Westküste abzustammen,
weil sie wirken, als wären sie Teil eines größeren Komplexes, in dem streng darauf geachtet wurde,
daß kein Gast in die Verlegenheit der sozialen Kontaktaufnahme zu anderen Gästen gedrängt wird.
So entstehen Wohneinheiten ohne Service, in denen jeder völlig auf sich gestellt und unabhängig vom
übrigen Treiben den Aufenthalt alleine bestimmt. In solchen Zimmern ist man nicht Gast, sondern
Mieter. In diesen von Konventionen befreiten Räumen kann man sich leicht Nabokovs Humbert
Humbert und seine kindliche Nymphe vorstellen.
Des weiteren gibt es Zimmer, die mit ihren Farben und Formen den Gast zur Ruhe gemahnen,
andere, die mit ihren großen Betten, Spielwiesen gleich, die Liebenden locken und zu amouröser
Vereinigung auffordern. Oder aber welche mit Betten, in denen nur ein mönchisch- keusch
eingestellter Schläfer Ruhe findet, Zimmer, die keinen Alkohol, bestenfalls ein Glas Wasser auf dem
Nachttisch dulden, in denen jeder Ansatz von Ekstase durch das Mobiliar im Keim erstickt wird, die so
nüchtern gestaltet wirken, daß man auf die Idee verfallen könnte, sie seien gezielt darauf getrimmt
worden, nur protestantisch denkende Puristen aufzunehmen. Manche Räume haben dagegen einen
Hang zu barocker Pracht, andere scheinen sich zu bemühen, mit traditionellen Formen die
Konventionen einer längst versunkenen Welt aufrecht zu erhalten. Andere erscheinen doppelbödig
und hintersinnig, wirken so, als wurden sie auf einen sarkastisch gestimmten Karikaturisten oder
Schriftsteller warten. Wieder andere kommen Räucherstäbchen schnüffelnden Esoterikern und
weltfremden Träumern entgegen.
Auch gibt es absurd eingerichtete Zimmer, Stan Laurel’s und Oliver Hardy’s würdig, in denen
beispielsweise die einzige Beleuchtung des fensterlosen Raumes eine Stehlampe am Fußende (!) des
Doppelbettes ist.
Unter den gemalten Zimmern befinden sich auch solche, die mit Kunstdrucken von Museumsbildern
geschmückt wurden. Die Sonnenblumen von van Gogh etwa werden auf einer mit gelben und blauen
Blüten gemusterten Tapete präsentiert. Angesichts derartiger Arrangements scheint der Verdacht
nicht unbegründet, daß jemand bei der Einrichtung bewußt Rache an den Highlights der bürgerlichen
Kunstgeschichte nehmen wollte. In Wirklichkeit jedoch verhält es sich wohl eher so, daß Eigeninitiative
und Konvention in bester Absicht auf unreflektierte Weise zu jener sämigen Masse aus Form und
Farbe zusammengeflossen sind, die wohliges Schaudern erzeugen kann.
Langendorf zeigt Räume, die den Eindruck vermitteln, als seien sie auf zynische Weise angetreten,
die Vorstellung des Jugendzimmers oder gar den Stallgeruch von Landschulheimen und
Jugendherbergen in die Erwachsenenwelt zu retten. Andere tun so, als wären sie von vornehmer
Abstammung, als wurde in ihnen überwiegend französisch gesprochen. Zu diesen könnte ein
Zimmerservice passen, der über das übliche Maß hinausreicht und Körperkontakt einschließt. Dann
sehen wir Zimmer, in denen man besser norddeutsch spricht, die mit ihren im berüchtigten
Handkantenschlag geformten Kissen auf rührende Weise auf preußische Tugenden und strenge
Ordnung pochen. Weiterhin gibt es Räume, in denen man animiert wird, sich mit romantisch
getrübtem Blick in eine adelige Märchenwelt hineinzuträumen oder in denen man zumindest geneigt
sein könnte, einen gehörigen Abstand zum gemeinen Volk zu verspüren. Durch manche Zimmer
scheint ein imaginärer Spiegel zu laufen, weil jeder Gegenstand doppelt vorhanden ist. In wieder
anderen wurde alles auf die gedachte Raummitte ausgerichtet, als gelte es, ein Kraftzentrum zu
bestimmen.
Zimmer im fahlen Abendlicht rufen die Abstammung des Wortes Hotel von Hostel, von Hospital, in
Erinnerung. Manche lassen einen strengen Patron oder eine bissige Empfangsdame vermuten und
scheinen nach Fresh-Air-Spray oder einem Desinfektionsmittel zu riechen.
In vielen Zimmern kann man sich durchaus vorstellen, zu übernachten und gut zu träumen. Über
einige würde man gerne mehr erfahren. Zum Beispiel über Zimmer 16. Worauf läßt diese impulsive
Malweise schließen? Was gab den Anstoß zu einem derart lockeren malerischen Vortrag? Selbst in
der Reproduktion wirken die Farben noch feucht und fett, scheint sich ihr eigentümlicher Geruch
mitzuteilen, spürt der Betrachter eine haptische Qualität.
Zu meinen Lieblingsbildern gehört Zimmer 49. Das Bett besitzt offensichtlich „King-Size“-Qualitäten,
was begrüßenswert ist. Raum zu haben, sich ausbreiten zu können, ist der wirkliche Luxus unserer
Zeit. Doch mehr noch als die Maße des Lagers beeindruckt das braune Zick-Zack-Muster des Stoffes
auf Tagesdecke, Vorhang und Lampenschirmen. Es erinnert an die experimentierfreudige Mode der
70er Jahre ebenso wie an folkloristische Formfindungen aus exotischen Breiten. Dieses Muster
verbindet sich malerisch auf wunderbare Weise mit der Struktur der Palmblätter, die durch das
Fenster zu sehen sind. Im Zusammenspiel von Innenraumbeleuchtung und blaugrünem Licht der
Dämmerung, das durch ein bis zum Boden reichendes Fenster fällt, entsteht eine besonders reizvolle,
eigentümlich eindringliche Raumtemperatur, der man sich gerne überließe.
Gabriele Langendorfs Serie der Hotelzimmer spricht ort- und rastlose Seelen genauso an wie sie
Liebhaber des Farb- und Formenspiels zu begeistern vermag. Die 54 Bilder der Schlafzimmer
erzählen vom Gefühl des Unterwegsseins, von Fernweh und Wurzellosigkeit, vom Ausgeliefertsein,
von Geborgenheit, Freiheit und Leichtigkeit. In ihrer virtuos vorgetragenen Malerei gelingt es der
Künstlerin, gleichermaßen stille und schräge Sensationen zu inszenieren. Was sie zeigt, ist
widersprüchlich und produktiv, in der Art, wie es Joseph Roth einmal auf den Punkt gebracht hat.
Seine Beschreibung des Abschiednehmens von der verlockenden Unpersönlichkeit eines
Hotelzimmers endet mit der Feststellung: „Ich bin fremd in dieser Stadt. Deshalb war ich hier so
heimisch.“3 Dadurch, daß Langendorf einiges deutlich zeigt, anderes aber nur andeutet, dadurch, daß
sie geschickt zwischen erzählerischen und malerischen Momenten, zwischen konzeptuellen und freien
Ansätzen hin und her springt, bringt sie einen Austausch zwischen Wirklichkeit und Fantasie in Gang,
in dem sowohl ästhetische als auch subtil bis subversiv motivierte Argumente Gehör finden. Durch die
ständige Reibung zwischen den unterschiedlich aufgeladenen Polen, durch Anziehung und
Abstoßung entsteht in der Betrachtung ein lebendiges Spannungsfeld, das die Augen stimuliert und
zudem großen Spaß bereitet.
Andreas Bee ist Kurator am Museum für Moderne Kunst in Frankfurt/M.
1 Volker Fischer, in: Volker Albus/Klaus Klemp (Hg.), Ausstellungskatalog „Lieber Gast – Zum
Stand der Heimat auf Zeit“, Frankfurt am Main, Leipzig, Zürich und Rotterdam, Edition Axel Menges,
Stuttgart/London 1996, S. 55.
2 Volker Albus, ebenda, S. 77 .
3 Joseph Roth, Abschied vom Hotel (1930), aus: „Werke Bd. 3. Das journalistische Werk 1929-
1939“, Köln 1991, zitiert nach: Eckhard Gruber (Hg.), „Fünfuhr-Tee im Adlon“, Berlin 1994, S. 137 f
Quellennachweis der Zitate im Impressum.
»Das Zimmer war gemein und ärmlich, über der üblen Taverne verborgen. Vom Fenster aus sah man
die Gasse, schmutzig und eng. Von unten drangen die Stimmen einiger Arbeiter hoch, die Karten
spielten und feierten. Und dort im schlichten, gewöhnlichen Bett gehörte mir der Leib der Liebe,
gehörten mir die lüsternen, rosigen Lippen des Rausches, rosig und in solchem Rausch, daß ich noch
jetzt, da ich es niederschreibe, nach so vielen Jahren! in meinem einsamen Haus von neuem
berauscht bin.«
Konstantin Kavafis
»Was heißt das, ein Zimmer bewohnen? Heißt einen Ort bewohnen, ihn sich aneignen? Was heißt,
sich einen Ort aneignen? Ab wann wird ein Ort wirklich der Ihre? Ist es der Fall, wenn man seine drei
Paar Socken in einer rosa Plastikschüssel eingeweicht hat? Ist es der Fall, wenn man sich auf einem
Gaskocher Spaghetti warm gemacht hat? Ist es der Fall, wenn man alle einzelnen Kleiderbügel des
Kleider- und Wäscheschranks benutzt hat? Ist es der Fall, wenn man eine alte Postkarte, die den
Traum der heiligen Ursula von Carapaccio darstellt, mit einem Reißbrettstift an die Wand geheftet
hat? Ist es der Fall, wenn man dort die Angstgefühle des Wartens oder die Überschwenglichkeiten
der Leidenschaft oder die Qualen rasender Zahnschmerzen erlebt hat?«
Georges Perec
»Die Bettdecke war nicht neu, der Teppich war nicht neu, der Leuchter war nicht neu, die Farben
waren nicht neu. Aber dieses Zimmer, das ein Amerikaner nicht schön gefunden hätte, strahlte auf
geheimnisvolle Weise. Ich konnte nicht herausfinden, woran das lag. Ich legte mich für ein paar
Augenblicke auf das Bett und blickte zum Kristallleuchter empor. Ich spürte genau, dieser Raum war
nicht leer, wie die meisten Zimmer in amerikanischen Hotels neu und leer zu sein scheinen, als
wurden sie nie von jemandem bewohnt, makellos neu und jungfräulich. In amerikanischen
Hotelzimmern findet man keine Spuren anderer Hotelgäste. Hier dagegen strömten die sanfte,
zartgelbe Tapete, der leicht verblaßte Teppich, die schweren Samtportieren, das Telefon und die
Klingeln Leben aus, das Leben vieler. Ich hatte das Gefühl, eine Droge genommen zu haben. Das
Zimmer war erfüllt von erotischer Brillanz und vergangenen Gästen. Namen kamen auf meine Lippen:
Nijinsky, Diaghilev, Madame Dubarry, Ninon de Lenclos, Marcel Proust, Jean Giraudoux, Colette.
Liebende, Aristokraten, Generäle, Männer von Welt, wer immer sie waren, sie hatten gelebt. Worte
waren gewechselt worden, ausdrucksvoll, deutlich, beredt, Gefühle waren gezeigt worden, Gesten
waren gemacht worden, es war mit Esprit und Phantasie geliebt worden, Wein war getrunken worden,
Träume gewiegt, und die Wärme ging von Körpern und von delikaten Soupés aus. Das Leben von
Paris überflutete diesen Raum wie eine erlesene Trunkenheit; ohne Dampfheizung, elektrische Geräte
oder irgend etwas außer Menschen, die so reich gelebt hatten, daß die Vergangenheit nicht entfliehen
konnte. Wie der Duft von Parfüm blieben sie in den Räumen, in denen sie gelebt, geliebt, sich erfreut
und in denen sie körperliche, leidenschaftliche Spuren hinterlassen hatten.«
Anaïs Nin
»Liebesnacht im Hotelzimmer
– oh, welcher Töne bedürfte ich, um deine Reize zu schildern.«
Klaus Mann
»I remember you well in the Chelsea Hotel you were talking so brave and so sweet. Giving me head
on the unmade bed, while the limousines was wait in the street.«
Leonhard Cohen
»New York City ist die heißeste Stadt, wenn man einen neuen Boyfriend und ein Hotelzimmer hat.«
Nina Hagen
»Im Hotelzimmer sitzt die Kälte wie ein einäugiger Greis und schielt nach meiner Haut.«
Max Deuthendey
»O wie gut, o wie schauerlich genau, wie grauenhaft profund kennen wir diese ruhigen Zimmer, diese
Stätten unsrer qualvollsten Leiden, unsrer schmerzlichsten Niederlagen, unsrer heimlichsten
Schmach! Wie falsch und tückisch, wie dämonisch blicken uns diese freundlichen Möbel, diese
wohlgemeinten Teppiche und heiteren Tapeten an! (...) Wie schmerzlich und ergeben blicken wir zur
weiß getünchten Zimmerdecke empor, welche stets im Augenblick der Besichtigung in schweigender
Leere grinst, um dann abends und morgens von den Schritten der Obenwohnenden zu dröhnen –
ach, und nicht nur von Schritten, das sind bekannte und also nicht die schlimmsten Feinde! Nein, über
diesen harmlos weißen Plan rollen in der Stunde des Verhängnisses, ebenso wie durch die dünne Tür
und Wand, ungeahnte Geräusche und Vibrationen, weggeworfene Stiefel, zu Boden fallende
Spazierstöcke, mächtige rhythmische Erschütterungen (auf hygienische Turnübungen deutend),
umgeworfene Stühle, ein vom Nachttisch stürzendes Buch oder Glas, das Rücken von Koffern und
Möbelstücken. Dazu die Menschenstimmen, die Gespräche und Selbstgespräche, das Husten, das
Lachen, das Schnarchen! Und weiter, schlimmer als dies alles, die unbekannten, unerklärlichen
Geräusche, alle jene seltsamen, geisterhaften Laute, die wir nicht deuten, deren Herkunft und
vermutliche Dauer wir nicht ahnen können, jene Klopf- und Wühlgeister, all jenes Knacken, Ticken,
Flüstern, Blasen, Saugen, Rauschen, Seufzen, Knarren, Picken, Sieden – weiß Gott, welch reiches
unsichtbares Orchester sich in den paar Quadratmetern eines Hotelzimmers verbergen kann!«
Hermann Hesse
»Damals begannen unsere ausgedehnten Reisen kreuz und quer durch die Staaten. Allen anderen
Touristenunterkünften lernte ich bald die sogenannten Motor Courts oder Motels vorzuziehen –
saubere, ordentliche, sichere Schlupfwinkel, ideale Stätten für Schlaf, Streit, Versöhnung,
unersättliche, unerlaubte Liebe.«
Vladimir Nabokov, Lolita
»Budapest: Großes Hotel, Marmor, Messing, geschmacklos, westlicher Luxus in östlicher Armut, TV
mit japanischen Pornos, Frühstücksbuffet mit Kaviar und Champagner,
- schlecht geträumt. Dublin: Kleines Hotel, winziges Zimmer, schlechtes Bad, sympathischer Besitzer, Geruch nach Whisky in der
Rezeption und Bratfett im Frühstücksraum, katastrophales Bett, – sehr gut geschlafen. Rom: Renault
Kastenwagen, kein Bad, keine Dusche, beste Matratze, kleine Piazza, Blick zum Barbier, Frühstück in
der Bar, frisch verliebt, – immer wieder geschlafen.«
Uwe Fischer
»128. Meide Stundenhotels.
Hier wirst du STETS gesehen.
130. Es ist unwichtig, wie Du in einem Hotel auftrittst. Hotelangestellte haben schon alles gesehen und
in allem sich getäuscht. Hohe Trinkgelder schaffen dir mehr Prestige als eine gestickte Krone im
Taschentuch. (Habe mehrere kleine Koffer; keinen großen.)
131. Weist man dir in einem Hotel, in dem man dich nicht kennt, ein kleines Zimmer nach dem Hof an,
so ist alles in Ordnung. Gibt man dir aber ein großes elegantes nach der Straße, so hält man dich für
einen Andern oder wünscht, dich zu beobachten. 144. Hotelzimmer mit versperrten Verbindungstüren
weise zurück, wenn es angeht. Bestenfalls wirst du durch Geräusche am Schlafen gehindert. Schlimmstenfalls
beobachtet man dich oder legt ein
Mikrophon an.«
Walter Serner
»Das Gerassel des Fahrstuhlgitters – knappe zwanzig Meter nordöstlich von meinem Kopf, aber so
deutlich vernommen, als wäre es in meiner linken Schläfe – wechselte mit dem Bummern und Rattern
der verschiedenen Manöver dieser Maschine und hielt bis lange nach Mitternacht an. Direkt im Osten
meines linken Ohrs (ich lag ja auf dem Rücken und wagte nicht, meine gemeinere Seite dem
undeutlich sichtbaren Gesäß meiner Bettgenossin zuzuwenden) war der Korridor randvoll von
fröhlichen, schallenden, albernen Rufen, die mit einem Hagel von Gute-Nacht-Wünschen endeten. Als
das endlich aufhörte, meldete sich nördlich von meinem Kleinhirn eine Toilette; es war eine männliche,
energische, rauhkehlige Toilette, und sie wurde oft benutzt. Ihr Gegurgel und Gerausche und der
langanhaltende Nachfluß ließen die Wand hinter mir erzittern. Dann war jemandem in südlicher
Richtung speiübel, er würgte mit dem Alkohol fast seine ganze Seele aus, und sein Wasserschwall
kam dicht hinter unsrem Badezimmer wie ein regelrechter Niagara heruntergestürzt. Und als die
verzauberten Jäger endlich in tiefem Schlaf lagen, artete der Boulevard unter dem Fenster meiner
Schlaflosigkeit, westlich meiner Rückseite – ein gesetzter, ganz und gar dem Wohnen vorbehaltener,
würdevoller Boulevard mit riesigen Bäumen – zum verächtlichen Tummelplatz riesiger Lastwagen aus,
die durch die nasse und windige Nacht röhrten.«
Vladimir Nabokov, Lolita
»Das wird der längste aller Tage sein. In diesem Zimmer gibt es ja glücklicherweise gar nichts, nicht
ein einziges Stück, auf das sich das Auge mit Schmerz heften könnte! Keine alte Zuckerdose, kein
Schreibtisch des Onkels, kein Porträt des Großvaters mütterlicherseits, kein Waschbecken mit
zinnoberroten Blümchen und einem Sprung dazwischen, kein Dielenbrett, das heimatlich knarrt und
das man plötzlich zu lieben beginnt, nur weil man verreist, keinen Rostbratenduft aus der Küche und
keinen Parademörser aus Messing auf dem Kleiderschrank des Vorzimmers! – Nichts! Wenn meine
Koffer weg sind, werden andere hier stehen. Wenn meine Seife eingepackt ist, wird eine andere
neben dem Waschbecken liegen. Wenn ich nicht mehr an diesem Fenster stehen werde, wird ein
anderer hier stehen. Dieses Zimmer macht sich und dir und mir und keinem Menschen Illusionen.
Wenn ich es verlasse und noch einen Blick darauf werfe ist es nicht mehr mein Zimmer. Der Tag ist
lang, denn es gibt keine Wehmut, ihn auszufüllen.«
Joseph Roth
»Endlich, endlich begannen Lichter in der heißen, schwarzen Leere heranzureifen und zu bersten,
sogleich wurde ein Hotel ausersehen und die peinvolle Fahrt bezahlt, und dieser Teil war erledigt. (...)
»Da wären wir«, sagte er, nachdem der Alte ihre Koffer hereingeschleppt hatte und gegangen war,
und im Zimmer blieb einzig das Klopfen seines Herzens und der entfernte Puls der Nacht zurück.
»Nun denn, Zeit, zu Bett zu gehen« (...) Er hatte den Treppenabsatz im Lauf erreicht, da fiel ihm ein,
daß er sich die Zimmernummer nicht gemerkt hatte, und zögernd blieb er stehen und spuckte den
Zigarettenstummel aus ... Die Ungeduld seiner Gefühle hielt ihn ab, noch einmal hinunterzugehen und
sich die Auskunft zu holen, und außerdem war es unnötig – er erinnerte sich, wie die Türen auf dem
Gang zueinander angeordnet waren. Er fand die richtige Tür, leckte die Lefzen, packte den Türknauf,
war drauf und dran... Die Tür war verriegelt; in der Magengrube fühlte er einen schrecklichen
Schmerz. Wenn sie sich eingeschlossen hatte, dann hieß das, sie wollte ihn aussperren, sie hatte
Verdacht geschöpft ... Hätte sie nicht so küssen sollen... Muß ihr Angst eingejagt haben, oder
vielleicht hat sie etwas gemerkt... Oder es gab einen alberneren und einfacheren Grund: Sie war
naiverweise zu dem Schluß gelangt, daß er in einem anderen Zimmer zu Bett gegangen war, es war
ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, daß sie mit einem Fremden im selben Zimmer schlafen würde
– doch, einem Fremden, noch. Und er klopfte, der Intensität seiner Beunruhigung und seiner
Gereiztheit bisher kaum bewußt. Er hörte ein jähes weibliches Lachen, das widerliche Aufstöhnen von
Bettfedern und dann ein Schlurfen von nackten Füßen. »Wer ist da?« fragte eine ärgerliche männliche
Stimme... »Falsches Zimmer, hä? Das nächste Mal suchen Sie sich bitte das richtige. Hier ist jemand
schwer bei der Arbeit, hier ist jemand dabei, einem jungen Menschen Unterricht zu erteilen, und sie
unterbrechen den...« Aus dem Hintergrund erscholl aufs neue Gelächter.
Ein vulgärer Irrtum, nicht mehr. Er ging weiter den Korridor entlang – und machte sich plötzlich klar,
daß er in der falschen Etage war. (...)«
Vladimir Nabokov, Der Zauberer
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Zu den Schiffsbildern (1995-1997) (Claudia Scholtz)
Bilder von andernorts sind eine feste Größe im Langendorf’schen Oeuvre. Es gibt Hotelbilder - einzeln
oder in serieller Form (mit Balkon und Sonnenschirm, mit Geranien und andern Balkonpflanzen, mit
und ohne Pool). Ich weiß um Hotelzimmer. Seit neuem sind da Fotopanoramen, auf denen zu sehen
ist, was sie sieht, wenn sie sich an verschiedenen Orten um die eigenen Achse dreht. Und
dazwischen stehen Schiffsbilder.
Schon in der stichwortartigen Aufzählung steckt viel Bewegung. Man möchte meinen, daß die Malerin
ständig on the road wäre, mit Motivfindung beschäftigt. Tatsächlich verbringt sie jedoch die meiste Zeit
in ihrem Atelier. Sie findet ihre Bildmotive in Reiseprospekten, in Postkarten, in eigenen Fotos und der
Erinnerung an Erlebnisse. Da ist gar nicht so extensives Unterwegs-Sein: Ihre Arbeit stellt eine
Notwendigkeit für sie dar und der Ort dafür ist ihr Atelier. So vereint Langendorf in ihrer Person die
gegensätzlichen Momente des Sich-von-der-Ferne-ein Bild-Machens und des An-Einem-Ort-Bleibens.
Das bezeichnet Sehnsucht.
An einem Dezembertag vor fast drei Jahren erwartet Gabriele Langendorf eine Nachricht. Sie hat sich
für ein Reisestipendium beworben. An diesem Tag bin ich, etwa vierzig Kilometer entfernt in meinem
Büro sitzend, aufgeregt, die Jury hat tags zuvor ausgewählt und mich ergreift der Kitzel, die
glücklichen Kandidaten zu benachrichtigen. Tatsächlich wohnt der Vergabe von zwölfmonatigen
Reisestipendien, die mitzuteilen ich das Vergnügen habe, die Projektion meines eigenen Fernwehs
inne.
So beginnt eine lange Reise. Langendorf wird nicht mit dem Flugzeug reisen, nicht mit einem Auto
oder Bahn oder Fahrrad oder per pedes: Die selbstbestimmte Durchschnittsgeschwindigkeit wird 10
km/h betragen, Transportmittel der Gaffelkutter „Marie France“ ihres Gefährten. Die „Marie France“ ist
eine erfahrene ältere Dame, deren Wiege in den vierziger Jahren in der Bretagne stand. Was für
Rahmenbedingungen für das angepeilte Unterfangen: zwölf Monate auf einem bretonischen
Gaffelkutter bei einer Geschwindigkeit, die die Reisezeit ins Unendliche verwandeln kann.
Christian ist als gewiefter Seemann Chef vom Dienst. Gemeinsam werden alle Planung, Schleusen,
Tanken, Hafenverwaltung, Verpflegung, Schlafen und sonstige Gegebenheiten des (Boots-) Lebens
bestritten. Zu zweit in zwölf Monaten, alle Tages- und Jahreszeiten lang, auf begrenzten
Quadratmetern, europäischen Wasssern - Flüsse, Seen, Meer, Grachten, Kanäle-, von Landgängen
unterbrochen.
Aus dieser Schiffsreise sind etwa vierzig Bilder unterschiedlicher Formate entstanden, die Langendorf
„Schiffsbilder“, nicht etwa Reisebilder nennt. Sie malt, was sie gesehen hat: stromauf- und
stromabwärts, an den Ufern, im Hafen und an Anlegestellen, in Schleusen, in einer Schiffshalle.
Es gibt wenige Bilder, für die Langendorf vor Ort die Staffelei aufgeschlagen hat. Auf der Brücke oder
unter Deck fertigt sie Skizzen an, Entwürfe, Fotos, die als Vorlagen für die späteren Bilder dienen. (Ein
Foto zeigt sie, im Schiffsinnern mit einem Wasserfarbenkasten, über ein Blatt Papier gebeugt.)
Anhaltspunkte für die spätere Nachreise im Atelier und Mittel der Orientierung innerhalb dieses
neuartigen Zustandes.
Vom Wasser aus verschieben sich die Perspektiven: Das Festland mit unbefestigten und befestigten,
bebauten Ufern, Quais, Häfen, Schleusenmauern. Laufen, Fliegen, Fahren mutet vom Wasser aus
anders an. Wie ist das zudem, auf der Seine in Paris einzulaufen (anstatt über den Flughafen oder die
Autobahn?). Wie erlebe ich eine Stadt, wenn ich auf dem Wasser zu ihr gelange? Reise bedeutet
innerliche wie äußerliche Bewegung, Körper in den Koordinaten von Raum und Zeit unter den
Vorzeichen der Lust. Abfahren, Unterwegs sein, Ankommen sind die Phasen einer Reise. Reisen
kann wie ein pränataler Zustand sein, eine Bewegung des Getragen Werdens wie im Mutterleib; zu
Schiff unterwegs sein hat erst recht diesen Bezug. Das Schiff wird Heimat, Bezugspunkt, es ist die
einzige örtliche Konstante und, paradoxerweise, ständig in Bewegung.
Innerhalb dieser naturgegebenen Bewegung gibt es zielgerichtete Momente, in denen Häfen,
Schleusen, Anlegeplätze angesteuert werden. Es gibt das sanfte Geschaukelt werden, sich Treiben
lassen, das bedrohliche Züge annehmen kann, wenn ein großes Lastschiff vorbei fährt, wenn Sturm
oder Gewitter drohen. Dann wird die vorübergehende Idylle zur Begegnung mit der Urgewalt, die
Relationen des Erlebens verschieben sich ins Existentielle: was kann ich jetzt tun in meiner
Nußschale, den Wetterhexen ausgesetzt?
Orte und Zeiten
Aus dem Bullauge aufs Meer gucken: das Licht, die sanfte Färbung des Horizontes ermöglichen
Rückschlüsse auf Morgen oder Abend. Dies und die Frage nach bewegter See oder beruhigter
Oberfläche sind wie Bordbucheintragungen zu Position und Wetterlage. Diese Bilder tragen daher als
Titel „ 46° 48’N 04°50W“;“43°04’N 08°09’E“;“38°26’N 10°32’E“ und „41°02’N 02°35’E“ (alle 1996).
Oft läßt sich die Tageszeit nicht einmal ungefähr, auch nicht die Jahreszeit definieren. Manche Bilder
haben eine ausgesprochene Gräue, man sieht nicht Stunde, nicht Ort, nicht Saison: „Axe du chenal“,
1996; „Rhone km 241, 1996. Das sind Zeichen langsam tröpfelnder Zeit, Bootsroutine, Reisekoller,
Langeweile und stets bleibt doch alles im Fluß: all die Blicke auf das diesseitige oder jenseitige Ufer
(„Recreatiegebied Molenkanaal“, 1995)1, das in seiner Befestigung nur wenig Abwechslung erfährt,
Bug oder Heck passierender Schiffe („Zuid Willemsvaart“, 1995), Wind in Grasbüscheln und Bäumen.
Tristesse eines Tages, dessen vielleicht lebhaftestes Ereignis der große Reiher war, der über die
„Marie France“ flog, als sie einem Arbeitsschiff begegneten („Bateaux travail au canal du silence“,
1996).
„Zwarte Water“ 1995 und „Markante Boom“, 19972 zeigen die Alternativen zur Fortbewegung. Der
Wohnwagen, mobiles Daheim für Schneckenhäusler, halb vom Uferbewuchs verborgen, zeugt vom
Reiseglück derjenigen, die das Fremde (nur) in maßvollen Dosen ertragen können (oder wollen). Oder
die Kondensstreifen am Himmel („Grote Sluis am Vliegfeld“, 1996), gerade noch sichtbare Spuren sich
kreuzender Wege: Die Reise im Flugzeug besteht aus Abfahrt und Ankunft, der Passage dazwischen
wohnt (in der Regel) keine Erlebnisqualität inne.
„Backbord/Petrolport“, 1996: Der Blick geht stromabwärts, auf die zurückgelegte Wegstrecke, in den
weiten Horizont mit untergehender Sonne, die alles, auch die just passierte Peniche in goldenes Licht
taucht, eine machtvolle Überhöhung dieses riesigen Gefährtes. Licht als Farbe schafft auf
„Ketelsbüttel“ (1996) theatralische Schatten, die Stimmung ist gewitterhaft, eine unbehagliche Ruhe
vor dem Sturm.
Auch der Blick auf das Wasser vom Wasser aus ist verändert. Eine ganze Reihe von Bildern handelt
von Wasserspiegelungen. Nur diese lassen den Rückschluß zu, daß Langendorf und ihr Gefährte vor
Ort lagen, Ankommensbilder. Sie hat eingehend studiert, wie die Erscheinung von Schiffen,
Uferbebauung und Hafengebäuden auf die Wasseroberfläche reflektiert und durch den Wellengang
gebrochen wird. Wenn Licht Farbe bedeutet und Wasser auch nur durch Licht (gleich Farbe) sichtbar
gemacht werden kann, wie verhalten sich dann Wasseroberfläche und Spiegelbild zu einander?
Physikalische Phänomene visueller Erscheinungsform, hochpotenziert? Wie geschlossen kann ein
Bild auf die Wasseroberfläche gespiegelt werden, wie weit ist das Gespiegelte noch identifizierbar?
Wie klar oder trübe ist das Wasser neben all den Farbpfützen der Spiegelbilder, wie gebe ich daneben
„Wasseroberfläche“ wieder? Was erkennbar bleibt, sind verlaufende Farbflecken, deren Richtung von
Wind und Strömung definiert wird. Auch erkennbar sind die Reflexe auf dem Wasser wie ein
verzerrtes Muster, die Wasseroberfläche wie ein gedehnter Stoff oder eine Folie - Langendorf hat eine
Zeit als Textilmustergestalterin erlebt.
„Port Gazoile - Bunkerstation“, 1996: In der Intensität mancher Farben steckt förmlich der Geruch
frischen Bootsanstrichs. Blendendes Weiß und Blau von Bootsrümpfen und Flanken („Cord’ on Bleu“,
1997) erinnert an glamouröse Jachthäfen, Kreuzfahrtdampfer und Passagierschiffe, die
Reisevergnügen in maritimen oder fluvialem Frohsinn versprechen.
In der Regel ist auch eine genaue Ortsbestimmung anhand des Bildinhaltes nicht vorzunehmen, nur
die Titulatur hilft weiter. Kann der Seemann anhand der metrischen Zeichen, die wie
Erinnerungsstücke aus einer anderen Welt Wasser- und Seemeilenstände bezeichnen eine nationale
Zuordnung vornehmen (wo doch die Seefahrt klischeehaft für Freiheit steht, tatsächlich jedoch eine
präzise Wissenschaft mit ihren eigenen Kodizes ist)? Auch die Hafenarchitektur läßt keine
Rückschlüsse zu. In „Jachthafen Oudehuizen“, 19953 wird beschauliche Hafenidylle mit gesichtslosen
postmodernen Funktionsbauten und ihrer grellen Farbigkeit gebrochen.
In Teilen der Schiffsbilder findet statt, was auch die Hotelzimmer kennzeichnet: Langendorf verwendet
unterschiedliche Malweisen, je nach Bildinhalt. Selbst innerhalb eines Bildes sind Partien malerisch
unterschiedlich definiert. Es gibt Bilder, die geradezu an die Naiven denken lassen, auf denen in
dokumentarischer, lakonischer Art das Gesehene fixiert wird. Eher unabsichtlich wohnt ihnen Komik
inne: “Mehr als ein Kranich und ein Kahn sind mir heute nicht begegnet“. Langendorf’sche Ironie
ebenfalls, sich für ein Seeufer der Impressionisten zu bedienen (“Unbestimmter Tiefgang“, 1996), oder
in pastosem Farbauftrag diese protzige Jacht mit ihren dunklen Scheiben am Quai, vor einer
Hafenpromenadenarchitektur à la Renaissanceschloß zu karikieren („Bassin de la Plaisance“4).
Durch Erinnern und Nacherleben verdichtete sich all das, was im Gedächtnis und auf Skizzen aus
zwölf Monaten Reise eingeschrieben ist. Der Vorgang des Malens, seinerseits zeitintensiv, tut ein
Übriges. Was Gabriele Langendorf in ihren Schiffsbildern vornimmt, ist bildgewordenes Protokoll und
Wiedergabe des sinnlichen Reiseerlebens: zwölf Monate bei 10 km/h - das kann Lust oder Qual sein,
manchmal auch beides. Was bleibt, sind Bilder vom gleichmäßigen Fluß der Zeit, Gleichmut und
Heiterkeit - gespeicherte Energie einer langen Reise in situationsbedingter Schicksalsergebenheit,
aktiver Selbstbestimmung im aufmerksamen Ausloten neuer Erlebnisbereiche.
Claudia Scholtz ist die Geschäftsführerin der Hessischen Kulturstiftung mit Sitz in Wiesbaden.
1 o. Abb., abgebildet in: Kunstforum Bd. 137, S. 185. Ruppichteroth, 1997
2 o. Abb.
3 o. Abb.
4 o. Abb., ibd.
-
G.L.
– durch halb Westeuropa gefahren – immer in Bewegung – ein Motiv jagt das andere – vom Wasser
aus das Land sehen – Kamera im Kopf – die Auswahl fällt schwer – jeden Tag woanders – Wind und
Wetter bestimmen den Lebensrhythmus – Reisen um des Reisens willen – das Schiff ist
schwimmende Heimat – die Nachreise im Atelier – wieder festen Boden unter den Füßen – ruhiges
statisches Arbeiten – Verblassen und gleichzeitiges Verdichten der Erinnerungen – sich in jedem Bild
auf eine Reise begeben: Ziel weitgehend unbekannt – sich auf der Leinwand treiben lassen – sich in
malerische Möglichkeiten und Details verlieren – die Farben hin- und herschieben – Malen um des
Malens willen – das Risiko des Scheiterns immer inbegriffen –
G.L.
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Impressum
Herausgeber: Herbert-Weisenburger-Stiftung, Rastatt
Redaktion: Gabriele Langendorf, Thomas Hirsch
übersetzungen: Jeremy Gaines, Frankfurt a. M.
Photos: Stefan Cop, Frankfurt a. M., Ingo Kilian, Frankfurt a. M.,
Wolfgang Günzel, Offenbach a. M., Ricarda Niks, Düsseldorf (Atelierphoto)
Layout: Steffen Harms, Karlsruhe
Produktionskoordination: Alexandra Fay
Gesamtherstellung: Engelhardt & Bauer, Karlsruhe
® 1998 Herbert-Weisenburger-Stiftung, Rastatt; Autoren und Photographen
Die Zitate:
Die Zitate von Konstantin Kavafis und Uwe Fischer sind dem Ausstellungskatalog: Volker Albus/Klaus
Klemp (Hg.), „Lieber Gast - Zum Stand der Heimat auf Zeit“, Frankfurt am Main, Leipzig, Zürich und
Rotterdam, Edition Axel Menges, Stuttgart/London 1996, S. 20, 28 entnommen. Das Zitat von
Georges Perec (S.137), Anaïs Nin (S. 93 ff), Klaus Mann (Umschlag), Max Dauthendey (S. 3), und
Hermann Hesse (S. 20 ff) finden sich in Lis Künzli (Hg.), „Hotels � Ein literarischer Führer“, Frankfurt
am Main 1996. Leonhard Cohen schrieb „Chelsea Hotel“ 1974 für Janis Joplin, Nina Hagen
veröffentlichte „New York“ 1983. Vladimir Nabokov wird zitiert aus „Der Zauberer“, Reinbek bei
Hamburg, 1990, S. 65 ff und 72 ff und „Lolita“, Reinbek bei Hamburg, 1996, S. 233 und S. 211. Die
Tips von Walter Serner finden sich in seinem 1927 erstmals erschienen „Handbrevier für Hochstapler
und solche die es werden wollen“ im Kapitel „Reisen und Hotels“. Joseph Roth wird zitiert aus
„Abschied vom Hotel (1930), Werke Bd. 3. Das journalistische Werk 1929-1939“, Köln 1991, nach:
Eckhard Gruber (Hg.), „Fünfuhr-Tee im Adlon“, Berlin 1994, S. 137 f.