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  1. Andreas Bee - Allernächste Dinge

    „Man trifft, wenn man sich umsieht, immer auf Menschen, welche ihr Leben lang Eier gegessen haben, ohne zu bemerken, daß die länglichen die wohlschmeckendsten sind, welche nicht wissen, daß ein Gewitter dem Unterleib förderlich ist, daß Wohlgerüche in kalter klarer Luft am stärksten riechen, daß unser Geschmackssinn an verschiedenen Stellen des Mundes ungleich ist, daß jede Mahlzeit, bei der man gut spricht oder gut hört, dem Magen Nachteil bringt. Man mag mit diesen Beispielen für den Mangel an Beobachtungssinn nicht zufrieden sein, um so mehr möge man zugestehen, daß die allernächsten Dinge von den meisten sehr schlecht gesehen, sehr selten beachtet werden.“

    Wenn wir auf Sätze wie diese stoßen, zustimmend bei ihnen verweilen und sie uns schließlich aneignen, geschieht das wohl, weil wir vom ersten Moment an das Gefühl haben, sie seien eigentlich nur deshalb aufgeschrieben worden, damit wir sie lesen. Nicht selten glauben wir sogar im Urheber jener Gedanken einen Freund, einen Verbündeten oder einen Weggefährten erkennen zu können. Ja, manch ein Leser befindet sich auf einer beständigen Suche nach solchen Sätzen, ist geradezu darauf erpicht, sich von einer vertraut erscheinenden Erfahrung eines anderen stimulieren zu lassen, von einer Erkenntnis, von der er annimmt, dass auch er sie schon einmal gemacht hat oder wenigsten hätte machen können.

    Es sind ganz ähnliche Gründe, warum manche von uns auf Bilder zugehen, sich mit Bildern umgeben, sie anschauen und diese dann, wie gute Sätze, oft lange, vielleicht sogar ein Leben lang mit sich tragen. Möglicherweise begeben wir uns nur deshalb immer wieder in Gesellschaft von Bildern, weil wir einmal intensiv erleben durften, dass Bilder etwas ganz Besonderes erfahrbar machen, etwas, dass uns ohne sie nicht zugänglich wäre. Das aber, was wir in der Begegnung mit Bildern erlebt haben, macht Lust auf mehr und deshalb suchen wir Augenmenschen in der täglichen Bilderflut immer weiter nach diesen seltenen, unsere Weltvorstellung erweiternden Bildern, so wie andere ständig nach guten Sätzen auf der Lauer liegen. Wir wollen Bilder, bei denen wir spüren, dass sie für uns gemacht wurden, Bilder, für die wir besser geeignet erscheinen, als die meisten anderen Zeitgenossen, für die wir prädestiniert sind, die wir unmittelbar verstehen, begreifen und uns ganz und gar anverwandeln können. Wir suchen nach unvordenklichen Arbeiten, nach Werken, von denen wir zwar noch nicht wissen, wie sie beschaffen sind, von denen wir aber glauben, dass sie bereits existieren und irgendwo auf uns warten.

    Treffen wir auf solche Bilder, dann müssen sie zunächst in einem Akt der Betrachtung belebt werden. Dass sie da sind, genügt noch nicht. Von der Qualität der Erweckung hängt schließlich alles ab. Erst durch die Leistung eines schöpferischen Betrachters kann das Bild zu einer Passage in eine andere Welt werden und der Austausch von Erfahrungen zwischen dem Bekannten und Unbekannten gelingen.

    Bei Gabriele Langendorf besteht die Magie ihrer Bilder darin, dass sie einfache Dinge in Malerei überträgt und erfahrbar macht. Indem sie sich ausgiebig den Dingen widmet, sie intensiv betrachtet, werden sie komplex und wandeln sich in etwas faszinierend Fremdes. So kommt eine andere als die oberflächliche Seite ihres Seins zur Geltung. Es ist also der obsessive Blick der Künstlerin, der das Objekt transformiert. Durch ihn verändert sich nicht nur das Objekt, sondern gleichzeitig auch derjenige, der es betrachtet.

    Das alles geschieht eher beiläufig. Wer wie Gabriele Langendorf seit Jahrzehnten zu malen gewohnt ist, der malt auch ohne Absicht, vielleicht sogar ohne Gedanken. Malen ist dann wie leben, auch wenn es uns vielleicht zunächst erschrecken mag, dass das eine wie das andere auf diese Weise gelingt und sinnvoll ist und dass man auf die eine oder andere Art Distanzen überbrücken und Gemeinschaften bilden kann. Entscheidend ist nur, ob wir durch unser Handeln den anderen erreichen. Gelingt uns dies, dann ist schon viel gewonnen. Nicht selten wird ein Kontakt als besonders intensiv empfunden, wenn wir uns über eine fehlende Erfahrung, über einen Mangel austauschen können. Über den verkümmerten Beobachtungssinn der Zeitgenossen etwa oder darüber, dass viele unter uns die allernächsten Dinge nicht wirklich wahrzunehmen willens oder in der Lage sind.

    Wie schön, beeindruckend und betrachtenswert die banalsten Dinge sein können, vermitteln die kleinformatigen Bilder von Gabriele Langendorf. Indem sich die Künstlerin alltäglichen Dingen zuwendet, bekommen sie eine Chance, mit gebührender Aufmerksamkeit betrachtet zu werden. Es geht ihr nicht darum, die Welt zu spiegeln. Durch die malerische Verfremdung zeigt sich zum Beispiel die Schönheit einer Schokolade in silbrig glänzendem Stanniolpapier, überträgt sich die beruhigende Akkuratesse eines gewöhnlichen Kassenzettel oder wird anhand von ungeduldig aufgerissenen Briefumschlägen die Neugier gegenüber den zugesandten Mitteilungen nachspürbar. Doch die Dinge müssen nicht unbedingt eine Geschichte andeuten, sie genügen sich in der Regel selbst. Ein Seifenstück, ein paar Eier, eine tote Maus, eine Pillenverpackung mit drei orangefarbenen Pillen, der an einem Nagel hängende Gummiring eines Einmachglases, ein gefaltetes weißes Tuch, ein wattierter Briefumschlag mit Küchenmesser oder ein Küchenschwamm mit Ehering sind für sich gesehen interessant genug, um ausgiebig beachtet zu werden.

    Für Nietzsche stand außer Frage, dass die Geringschätzung der allernächsten Dinge folgenschwer sein würde. Er war der Meinung, es lassen sich aus dem Mangel an Aufmerksamkeit „fast alle leiblichen und seelischen Gebrechen der einzelnen ableiten: nicht zu wissen, was uns förderlich, was uns schädlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise, Verteilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Muße, Befehlen und Gehorchen, Natur- und Kunstempfinden, Essen, Schlafen und Nachdenken; im Kleinsten und Alltäglichsten unwissend zu sein und keine scharfen Augen zu haben - das ist es, was die Erde für viele zu einer „Wiese des Unheils“ macht. Man sage nicht, es liege hier wie überall an der menschlichen Unvernunft: vielmehr - Vernunft genug und übergenug ist da, aber sie wird falsch gerichtet und künstlich von jenen kleinen und allernächsten Dingen abgelenkt.“ 1

    Mit ihren Bildern widmet sich Gabriele Langendorf nicht nur den allernächsten Dingen, sie bringt darüberhinaus auch eine große Gelassenheit gegenüber ihrer Profession und ihrem Anspruch als Malerin zum Ausdruck. Eben weil die Serie der neuen Bilder nicht an der äußersten Grenze der virtuosen Möglichkeiten der Künstlerin angesiedelt ist, hinterlassen die Arbeiten beim Betrachter einen wohltuend entspannten Eindruck. Sie strahlen - wie alle guten Dinge - etwas Lässiges aus.

    Andreas Bee

    1 Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Hg. Karl Schlechta, München 1981, Bd. I. 874 (6) Die irdische Gebrechlichkeit und ihre Hauptursache